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Die Dating App Tinder spaltet die Gemüter. Für die einen ein leichtfüßiges Lifestyle-Produkt, für andere der digitale Untergang der Moral. Für mich  ist Tinder vor allem ein klassischer Disruptor. Und hat, ganz nebenbei, die User Experience enorm verbessert.

Grundlegendste Bedürfnisse

Die Frage, wie Mann und Frau zueinander finden, ist uralt. Die Sache mit der Keule und der Höhle ist überholt – mehr oder weniger. Gedruckte Heiratsannoncen gab es schon im 18. Jahrhundert, in den 1970er und 80er Jahren blühten dazu als Dienstleister die Partnervermittlungen. Mittels guter Kontakte und großer Karteien versuchten diese Agenturen, einsame Herzen einander näherzubringen. Aus dieser Zeit stammen die klassischen Inserate mit ihren kryptischen Kürzeln:

Er, 47, 1,73/85, akad., rk, NR s. liebev. Frau zw. Heirat.

Klingt doch erstaunlich wie ein Chat zwischen Jugendlichen 30 Jahre später. ROFL!

Die Disruption der Disruption

Der Aufstieg des Webs am Ende des 20. Jahrhunderts machte den Annoncen weitgehend den Garaus. Ihnen ging es wie den Stellenanzeigen – sie wanderten ins Digitale, wo sie in beliebiger Länge verfasst, mit Bildern versehen und bequem durchsucht werden konnten.

Ein klassischer Fall von Disruption: Ein zunächst schlechteres System (Zugang nur mit Computer und teurem Internet, schlechte Findbarkeit) macht die bestehende Technik (Zeitungsanzeigen, Chiffre, Briefe) unattraktiv und überflüssig. Große Portale wie neu.de, Parship und ElitePartner entstanden. Dazu kam eine unübersichtliche Anzahl Websites für Menschen mit bestimmten (meist sexuellen) Vorlieben, mit gleicher Religion, Sprache oder Herkunft. Die Portale versuchen alle, mit Hilfe ausführlicher, gelegentlich „wissenschaftlicher“ Fragebögen, ihre Mitglieder zu sortieren und so zu besseren Partnerempfehlungen zu kommen. Für die Benutzer war so ein Prozess aufwändig, aber auch spannend. Welche Bilder nehme ich, was ist mir wichtig, was biete ich eigentlich selbst? Und immer die Gewissenfrage: Was und wie viel gebe ich von mir preis?

Das alles klappte bis vor ein paar Jahren noch gut. Und dann kam Tinder und machte alles ganz anders.

Die zündende Idee

Die App zeigt dem Nutzer flirtwillige Interessenten in der Nähe. Wischen nach rechts bedeutet „Like“, wischen nach links ein „Nein danke“. Ein gegenseitiges „Like“ ergibt ein Match, dann kann man miteinander chatten – vorzugsweise um sich schnell zu treffen und live zu sehen, ob es passt.

Ist das alles?

Das Profil ist minimalistisch. Ein paar Bilder, dazu Name, Alter, Entfernung und etwas Freitext. Keine Prosa, kein statistisches Matching, kein Herantasten. Es zählt nur eines: Willst Du oder willst Du nicht?

Fehlt da nicht etwas? Möglicherweise. Bei Tinder gibt es keine Vorlieben, keine Psychologie, keine Ratschläge und keine romantischen Erfolgsgeschichten.

Doch ein richtiger Disruptor bietet immer weniger als der Status quo. Aber das wenige ist genau, worauf es den Kunden ankommt. Und dieser Kern wird mit Hochdruck optimiert.

Do the right thing

Drei Punkte machen Tinder so effizient:

1. Nutzung bestehender Möglichkeiten

Facebook hat 1,3 Milliarden Nutzer, die posten, sharen und Bilder hochladen. Es ist raffiniert, dieses Netzwerk als Nutzerbasis zu nutzen, statt zu versuchen ein eigenes Netzwerk aufzubauen.

Die Nutzung von Facebook macht auch den Start (neudeutsch: das Onboarding) bei Tinder extrem einfach. Man meldet sich mit seinem Facebook-Profil an, die bestehenden Bilder werden übernommen, zack ist man online und ready to match. Kein Vergleich zu den Bewerbungsformularen  bei klassischen Portalen.

2. Mach ein Ding richtig

Die Einfachheit der App bedeutet, dass man diese eine Sache (hier: das Wischen, den Swipe) wirklich bis ins Detail richtig machen kann. Noch heute wird an dieser Geste weiter optimiert, bis sie auf allen Geräten das richtige Wischgefühl vermittelt. Die lokale Suche sorgt dafür, dass man Matches schnell und unkompliziert treffen kann. Kein langes Mailen, schnell Klarheit ob Top oder Flop. Meet, Greet …Beep.

Und die App ist konsequent auf die Nutzung am Handy ausgelegt. Einfach unterwegs ein paar Matches einsammeln hebt die Stimmung. Und hat auch ein paar nette soziale Folgen, wenn man sich mit Freunden über die gefundenen Vorschläge austauscht.

3. Weniger ist mehr

Der Punkt, den wir uns so ungern eingestehen (und den das Feuilleton verabscheut): Es geht uns nur um Äußerlichkeiten! Und das ist furchtbar effizient. Im echten Leben reichen wir einem Flirtpartner doch auch keinen Fragebogen. (Okay, außer dem ganz alten: „Willst Du mit mir gehen? – Ja, nein, vielleicht“) Nein, wir schauen erst mal hin. Signalisieren Interesse und checken gleichzeitig, ob das Gegenüber reagiert. Wenn ja, dann plaudern wir. Und schauen, wohin es führt.

Wahr ist: Die Erfolgschancen sind mit Profil, Prosa und Vorliebenlisten keinen Deut besser. Denn trotz langer Profile und vielem Hin- und Hergemaile sind viele erste Dates ernüchternde Momente. Das Gegenüber sieht ganz anders aus, guckt komisch, riecht nicht gut und hat eine ganz merkwürdige Art zu sprechen. In Sekunden weiß man, dass das hier nicht wird. Tinder kürzt den Weg dahin nur ab. Ein Blick, ein „könnte passen“ und auf zum Treffen! Das mag auf Schöngeister lieblos wirken, ist aber enorm effizient. Und viel näher am echten Leben als Fragebögen und Brieffreundschaften!

Swipe right: Tinder UX

Bemerkenswert ist, dass Tinder mit dem Swipe eine neue Geste etabliert hat. Wir haben verschieben und tippen gelernt, und auch den Pinch-Zoom (zwei Finger auf dem Schirm auseinander ziehen, um zu vergrößern). Genial, weil intuitiv. Jetzt swipen wir, um Zu- oder Ablehnung zu signalisieren. Das ist so einfach, dass es sich inzwischen in anderen Bereichen fortsetzt. Denn auch Shoppen bei Mode funktioniert im Sekundentakt – könnte was sein, ist nix, weiter. Das setzen Shopping-Apps wie Amaze, Grabble, Mallzee und (exklusiv und nur für exklusive Schuhe) Stylect um.

Noch extremer ist es bei Bewerbungsapps – im Grunde ja auch ein Dating: Passt man zusammen? In den USA gibt es Switch und Jobr, in den Niederlanden JobTalk, Cocoon und Otso. Da Personalberater einer Bewerbung im Schnitt nur 7,8 Sekunden Zeit widmen, präsentiert die App Bewerbungen im einfachen Swipe-Format. Swipe, Like, Match and Chat: So schnell hat noch niemand elektronische Aktenstapel sortiert!

Was wir von Tinder lernen können

Alles in allem ist Tinder ein perfektes Beispiel für die digitale Disruption.
Konzentration auf das Wesentliche, extrem vereinfachte Prozesse und intuitive Bedienung: Mehr kann keiner wollen!
Und wir können daraus eine Menge für unsere eigenen Projekte lernen:

  • Tinder nutzt den Zeitgeist: Alle posten, posen und leben sich in Selfies aus. Wer will da noch Profile ausfüllen?
  • Aufmerksamkeit ist eine harte Währung im Netz: Jedes Like (bzw. Match) ist ein kleiner Endorphin-Kick. Anregend und mit Suchtpotential. So gibt es auf Tinder Jäger (auf der Suche nach echten Begegnungen) und Sammler (die gar kein Treffen wollen und denen eine steigende Anzahl Matches völlig ausreicht).
  • Tinder ist ganz nah am Kunden: Onboarding, Prozess, User Experience, alles ganz einfach. Und abgestimmt auf die Nutzung am Handy. Ich flirte ja im Real-Life auch draußen, nicht daheim am Bildschirm.
  • Klassisches Freemium-Modell: Gratis eine vollwertige App, um den Netzwerk-Effekt zu nutzen. Denn Dating ist nur spannend, wenn es genügend Nutzer auf der Plattform gibt. Die Premium-Version bietet zusätzliche Funktionen, die nicht essentiell, aber für begeisterte Nutzer emotional wichtig sind.
  • Klarer Preisvorteil: Bekannte Portale verlangen schnell 60 Euro pro Monat von ihren Mitgliedern und haben Vertragsbedingungen, schlimmer als Handyverträge. Wer tut sich das an, wenn es eine kostenlose Alternative mit hohem Spaßfaktor gibt?
  • Und das wichtigste: Tinder IST einfach! Wir beurteilen Menschen nun mal nach dem ersten Eindruck. Wozu also Profile wälzen, wenn ich mit einem Bild und einem kurzen Treffen den Menschen und unsere Chancen viel schneller erkennen kann?

Fazit: Weniger ist mehr

Tinder hat eine Menge richtig gemacht.
Sein Minimalismus mag für menschliche Beziehungen etwas zu karg sein – für die mobile Nutzung ist die Konzentration aufs Wesentliche vorbildlich.

Extra: Drei Dinge, die Sie noch nicht über Tinder wussten

Über Tinder wurde und wird viel geschrieben, das meiste davon Erfahrungsberichte und Dating-Tipps. Doch ein paar Dinge gibt es, die Sie vermutlich noch nicht wussten:

  • Tinder basiert auf der App Grindr, die das schnelle Wischen für schwule Männer erfand und die mit mehr als fünf Mio. Nutzern pro Monat weltweit erfolgreich ist.
  • Der Name Tinder (Zunder) ist eine zündende Idee. Denn ein guter Flirt ist schon ein Spiel mit dem Feuer. Seit gut 200 Jahren gibt es die Streichhölzer – und die heißen auf Englisch, wie passend: Matches.
  • Ähnlich wie Facebook entstand Tinder als Flirt-App für paarungswillige Studenten. Bemerkenswert war der Aufbau der User Base – denn ohne Nutzer ist die App wertlos. Teams von Tinder kamen an die Unis, in die Verbindungen und Wohnheime und warben zunächst ganz gezielt bekannte und attraktive Studenten beiderlei Geschlechts. Diese konnte man im zweiten Schritt den anderen Studenten in der App zeigen, was die App sofort sehr attraktiv machte. Auch Launch Parties, bei denen man nur mit installierter App Zugang bekam, waren sehr beliebt. Das Ziel war es, in einem extrem lokalen Markt (wie einem Uni-Campus) sehr schnell eine hohe Sättigung zu erreichen. Mit dieser kritischen Masse wurde der Rest der Community dann zügig und wie von selbst erreicht.
    Mit Erfolg: Innerhalb von nur sechs Monaten baute Tinder über eine halbe Million aktiver Nutzer auf!

Wann geben Sie Ihrer App so richtig Zunder?

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